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Das System Faust – Mephistos Medizin (Vorab)

Dieser Text ist eine unfertige Vorabveröffentlichung. Dieser Essay wird in Zukunft noch ergänzt und/oder verbessert.

Es ist ein Teil von jener Kraft, die stets das gute will – und stets das Böse schafft.

Ich konnte stillsitzen und zuhören – apathisch, seelenlos. Konnte aufnehmen und verarbeiten – aber nie wirklich da sein. Nach 10 Jahren verbrannte ich endlich den bitteren Handelsvertrag von Mephisto zu Asche.

So viel zur theatralischen Einleitung. Fahren wir fort – nüchtern, so sachlich wie es geht – und bitte ohne Empathie.

Fast meine ganze Schulzeit lang, seit der 2. Klasse, nahm ich das Aufmerksamkeitsfördernde Medikament Medikinet – auch bekannt als Ritalin. Methylphenidat, der Hauptwirkstoff in beiden Medikamenten, wirkt als Stimulans auf das zentrale Nervensystem. Es wird hauptsächlich bei ADHS und Narkolepsie verschrieben und sorgt für verbesserte Aufmerksamkeit, strukturierteres Denken und weniger Reizüberflutung. Ganz grob gesagt, es hilft Menschen, die sich schwertun, sich zu konzentrieren. Klingt doch erstmal ganz solide – bis man über die Nebenwirkungen spricht. Die Recherche überlasse ich hier aber mal den Leser*innen – das hier ist ein Essay und keine Vorlesungsstunde in Pharmakologie. Zudem empfehle ich den Selbstversuch von Ariane Alter in einer Puls-Reportage des BR. Das Video ist zwar schon 8 Jahre alt, aber ich finde das spiegelt meine kleinen Zustände recht gut wider.

Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust,

Die eine will sich von der andren trennen;

Die eine, in derber Lebenslust – aber diese wurde sediert

Die andre bebt durch mein kaltes, zitterndes Herz

Neben einigen anderen unschönen erlebten Nebenwirkungen, sticht für mich eine weitere glasklar heraus – die Apathie, die Seelenlosigkeit. Pille gegen Seele. Wie es ist, sich konzentrieren zu können – nicht zu stören. Aber dafür sitzt man auf dem Plastikstuhl wie ein Untoter, ein Zombie. Im Moment habe ich gar nichts gespürt. 6 Stunden am Tag saß ich im Klassenzimmer und ließ den Stoff auf mich einrieseln – ohne Platz für echte Empathie. Soziale Interaktion war mühselig, etwas, was in meinem damaligen Zustand nur unnötiger Ballast war. Es fühlte sich so an, als ob ich überhaupt nicht interagieren könnte. Ein Gefühl, als ob man kein Gefühl hätte. Aber das war nicht nur ein Gefühl, man konnte es sogar von außen sehen. Zugegeben, wenn ich diese Pille vergaß, wurde ich häufiger ermahnt, die Lehrkräfte lösten häufiger das auf, was sie als störend empfanden. Auch meine Freunde, meine paar Vertrauten, scherzten: „Hast du heute deine Medikamente nicht genommen?“, wenn ich mal etwas lebendiger war. Sie wussten von meinen Problemen. Einer sagte mal „Wenn du das Zeug nimmst, sitzt du da wie ein Zombie“. Ich konnte es ihm nicht übelnehmen, es traf ja einen wahren Kern. Und gleichzeitig freuten sie sich, wenn ich es tatsächlich mal vergessen habe, die weiß-rosane Pille zu schlucken. „Weil dann bist du ganz anders – irgendwie lustiger drauf.“, sagten sie. Für das Bildungssystem hats gereicht – für die soziale Kompetenz nicht. Seele gegen Pille – der Faust im System. Es ist nicht so, dass ich nicht lernfähig bin. Es ist falsch zu sagen, dass ich nichts aufnehmen kann.

Aber was mich heute, wo ich Mensch bin, vor allem stört: In einem System, das konsequent die Menschenwürde achtet, hätte es all das vielleicht gar nicht gebraucht.

Nun sag, wie hast du´s mit der Menschenwürde?

Was steckt also dahinter? Es ist – natürlich – das System. Das Leistungsprinzip. Das Bildungssystem, das Menschen nicht in ihrer Individualität fördert, sondern maschinenartig gehörige Arbeitskräfte heranzieht.

Es ist der scheinbar zwanghafte Drang, alles zu rationalisieren und zu bewerten, was irgendwie lebt. Die Pflanzen, die Tiere – und den Menschen selbst. Was im Bildungssystem bleibt, sind Noten, Rechenschaftsablagen, Hausaufgaben und die stringente Segregation von ökonomischen Status. Ach was, es gibt ja immer mal ein paar neoliberale Musterbeispiele, oder? Denn jeder kann es schaffen! (Aber nicht alle).

Das Bildungssystem verhext über 12 Jahre lang ein Individuum in ein Arbeitstier. Trimmt es auf Effizienz und passt es an. Hauptschüler sind alles Handwerker*innen, Realschüler*innen sollen eines Tages mal Verwaltungsaufgaben übernehmen und fühlen sich in der ökonomischen Mittel- und Unterschicht zuhause. Und Gymnasiasten sind natürlich die stolzen weißen Ritter des Wohlstands. Die Juwelen der Gesellschaft: Ärzt*innen, Politiker*innen, Jurist*innen. Sie sind zu großem bestimmt. In der öffentlichen Debatte gelten sie als Expert*innen und weisen dem einfachen Fußvolk den Weg.

Das ist natürlich überspitzt. Aber so fühlen sich viele Schulbiografien an. Wenn die eigenen Eltern nicht zufällig selbst einen hohen akademischen Abschluss haben, schafft man es selbst unwahrscheinlicher ein Abitur zu erlangen. Um genau zu sein erlangen nur rund 20% der „Arbeiterkinder“ ein Abitur. Das alles natürlich unabhängig von der tatsächlichen Leistungsbereitschaft und den individuellen Fähigkeiten. Sprachbarrieren, ökonomische Unsicherheit und Diskriminierung verschlechtern dann noch die eigenen Bildungschancen. Je geringer das Kapital, egal in welcher Kapitalform, desto geringer die Bildungschancen.

Das ist selbstverständlich menschenunwürdig. Das System lässt überhaupt keine Vielfalt zu. Was nicht passt, wird passend gemacht. Passend für den Arbeitsmarkt, passend für das kapitalistische System. Das Individuum verkommt im Bildungssystem zur optimierbaren Ressource. Die individuelle Förderung spielt eine untergeordnete Rolle. Dabei schmücken sich doch unsere Schulen mit der Förderung individueller Talente, oder nicht? Das ist nichts als ein Deckmantel, das staatliche Bildungssystem fördert nicht individuell.

Betrachten wir das einmal genauer. Werden wirklich alle individuell gefördert? Natürlich nicht. Nur jene, die ihr Talent bereits gezeigt haben. Ein Mathegenie wird erst gefördert, wenn es schon mathematisch brilliert. Eine schnelle Athletin, wenn sie im Sportunterricht glänzt. Ein sprachbegabter Schüler, wenn er sich längst fließend ausdrücken kann.Heißt? Niemand wird entdeckt. Niemand wird aufgebaut. Nur wer sichtbar Leistung zeigt, bekommt Förderung.Und die anderen? Die, deren Talente noch verborgen sind – weil Armut, Sprachbarrieren oder Angst sie zurückhalten? Ach, wer braucht die schon.Sollen sie sich doch mal anstrengen. Und wenn’s nicht funktioniert – nun ja, dafür gibt’s ja Medikamente.

Das ist sehr viel Selbstmitleid bis jetzt. Aber um fair zu bleiben, die Leiden des Jungen Werthers waren länger und unerträglicher.

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